Aufführungen
Inszenierung
Peter Molitor
Bühnenbildbetreuung
Petra Mollérus
Kostüme
Karin Huber
Action-Sequenzen
Thorsten Roth
Musik
Holger Schäfer*
Regie-Assistenz
Kerstin Kroner
Inspizienz
Delia Schult
Souffleur
Karl-Heinz Hackert
Dramaturgie
Sven Ruppert
Kindermörder: Thorsten Roth
Ehe/Auto: Sandra Dehler
Phönix Normalzeit: Britta Weber
Alte Romantische Liebe Männlich: Sven Ruppert
Alte Romantische Liebe Weiblich: Jessica Gronau
Großer Vorsitzender: Thorsten Roth
Neue Bürokratie: Thorsten Köhler
Theater Männlich: Holger Schäfer
Theater Weiblich: Carmen Müller
Neue Romantische Liebe Männlich:Steffen Popp
Neue Romantische Liebe Weiblich: **Friederike Glaab/ Marie von Grundherr
Soldat G/Gangster G: Gernot Schüßler
Soldat R/Gangster R: Thorsten Heuser
Mutter aller Huren: Evelyn Volk
Tochter Hure: Kerstin Kroner
Türkin: Anna-Kathrin Berger
**Premierenbesetzung
Herstellung der Dekoration in den eigenen Werkstätten
Aufführungsrechte: Verlag der Autoren, Frankfurt
Premiere: 22. Juni 1997
Anfang: 20.00 Uhr
Keine Pause
Ende ca. 21.30 Uhr
*außer: "Deutschlandlied": Joseph Haydn
"I wonder why": Sonny Boy Williamson
"Without us" (Copyright Control)
Mir san die Freistaatbuam
Und mir san mir
Wir ham die Bayernpower
Und de ned wia
Mir ham an Hillermeier
Und die Uschi Glas
Wir harn an Wecker und die Gloria
Ja des is doch was
Unser TV-Chef
Paßt aufn Hildebrandt auf
Und auf die Schwarzen Sheriffs
Paßt koaner auf
Mir ham a saubers Bier
Und die CSU
Des ois ham mir
Und jetzt kimmst Du
Mir san aufrechte Männer
Und mir deama was ma könna
Für die Sicherheit
Wir stehn ständig unter Strom
Und den brauch ma vom Atom
Jederzeit
Bei uns wird konsumiert
Und scho gar net demonstriert
Kapiert?
Wir ham an UKW
Und an Bayern 3
Wir ham a AKW
Und an 0hu 2
Wir ham an Kabelkanal
An Rhein-Main-Donau-Kanal
Wir spritzn Wasser und Gas
Ja des is doch was
Wir ham in Wackersdorf A WAA
An Stoiber und an Tandler
An Franz Joseph ham ma a
Wir ham a MBB
Und an MTU
Die baun unsre Waffen
Und was baust Du?
Mir san aufrechte Männer
Und mir deama was ma könna
Für die Sicherheit
Wir stehn ständig unter Strom
Und den brauch ma vom Atom
Jederzeit
Wem des net paßt der soll sich schleicha
Gell des merkts Euch, Österreicher!
Bayern muß sauber bleibn
Waschecht und bügelfein
Original
Bayern du hehrer Ort
Bleibe uns immerfort
Christlich-Sozial
-Konstantin Wecker-
An|ar|chie die; -, ...ien (griech. =
Herrschaftslosigkeit), urspr. die Zeit der 30
Tyrannen in Athen ohne eig. Herrscher
(Argon), später allg. Bez. für jeden gesetz-
und autoritätslosen Zustand in Gesellschaft
und Staat; Chaos in polit., wirtschaftl. o.ä.
Hinsicht.
in
Bay|ern (lat. Bavaria), süddeutsches
Land, 70547 km2, 12,04 Mill. Ew.;
Hauptstadt München, Süd-B hat Anteil an
den Alpen (Zugspitze 2963 m); Viehzucht,
Holznutzung, Elektrizitätsgewinnung,
Fremdenverkehr, Heimarbeit. Im N davon
das von eiszeitl. Gletschern geformte
Alpenvorland (Bayerische Hochebene), im S
Wiesen und Wälder, im N Ackerbau
(Weizen, Gerste, Hopfen, Tabak). Große
Moore. Westl. des Bayerischen u.
Böhmischen Waldes das fränk. Stufenland: in
den Becken Anbau von Getreide,
Hackfrüchten (Kartoffeln, Zuckerrüben),
Mohn, Hopfen, Obst, Wein, Tabak u.
Gemüse. Neben rohstoffgebundenen
kleineren Industrien (Bierbrauerei, Holz,
Leder, Porzellan, Glas, Spielwaren) in den
Großstädten Maschinen- u. chem. Ind.
Kommen Sie in das Puff das Zukunft heißt Und Wachstum und Profit und Ordnung. Wenn Sie auch einer sind der aufs Weiterleben pfeift Dann sollten Sie das sofort tun. Wir bieten Ihnen Wohlstand und Sicherheit Und unverwundbare Seelen. Sie geben Ihr Hirn am Eingang ab Und brauchen sich nie mehr zu quälen. Zwar: es hat in diesem Leben Vieles nicht den rechten Sinn Denn der eine muß marschieren Und der andre sagt wohin. Doch wer soll das schon verstehen Besser hält man seinen Mund Gestern war die Welt noch eckig Heute ist sie kugelrund. Kommen Sie in das Puff das Freiheit heißt Die Kloake der Illusionen. Wer brav ins Töpfchen der Wahrheit scheißt Hat freies Essen und Wohnen. Die Nächte sind sternklar wie eh und je Unter unserem künstlichen Himmel - Im Sommer gibts Bräune, im Winter gibts Schnee Und das Lieben besorgt der Pimmel. Zwar: es ist in diesem Leben Vieles nicht im rechten Lot Denn die einen machen Menschen Und die andern schlagn sie tot. Doch wer soll das schon verstehen Besser hält man seinen Mund Gestern war die Welt noch eckig Heute ist sie kugelrund.
"Dann bin ich mit der konkreten Utopie der Anarchie im Kopf ein extremer Verfechter der Demokratie, auch eine Minderheit. Das darf man heute ja schon kaum mehr sagen, das mit der Anarchie, weil wir von unseren Medien gelernt haben, daß Anarchie und Terrorismus Synonyme sind. Es gibt nämlich auf der einen Seite eine Utopie von einer Staatsform ohne Hierarchien, ohne Ängste, ohne Aggressionen und auf der anderen eine konkrete gesellschaftliche Situation, in der Utopien unterdrückt werden. Daß hier Terrorismus entstehen konnte, bedeutet doch, daß die Utopie schon viel zu lange unterdrückt wurde. Da sind eben ein paar Leute ausgeflippt, verständlicherweise. Und das hat eine bestimmte herrschende Klasse, vielleicht sogar unbewußt, letztlich gewollt, um sich konkreter formulieren zu können." November 1977
"Ich muß versuchen, Zusammenhänge herzustellen, um mich dagegen wehren zu können, in von anderen Leuten gemachten Zusammenhängen unterzugehen. Ich muß versuchen, Widerhaken zu haben gegen diese puristischen Vorgänge, denen ich sonst völlig ausgeliefert wäre. Kunst? - mit dem, was man macht, versucht man, sein Publikum in einer bestimmten Art und Weise zu sensibilisieren fürs Leben, für die Umwelt. Das ist ein Sensibilisierungsprozeß, den man mit sich selbst vorgenommen hat und den man übertragen muß für sein Publikum - mehr ist es nicht." März 1979
"Nur die Anarchisten sind heute in der Lage, die Gesellschaft zu verändern, ohne zu den Mitteln des Terrorismus zu greifen." Oktober 1979
"Bei mir geht es immer um die Ausbeutbarkeit von Gefühlen, von wem auch immer sie ausgebeutet werden. Das endet nie. Das ist ein Dauerthema. Ob der Staat die Vaterlandsliebe ausbeutet, oder ob in einer Zweierbeziehung einer den anderen kaputt macht. Das kannst du in immer neuen Variationen erzählen." Oktober 1980
"Ich bin ein romantischer Anarchist." März 1982
Ingrid Caven (Schauspielerin, von 1970 bis 1972 mit Fassbinder verheiratet): "Er mochte ganz alltägliche Dinge, aber auch sehr stilisierte, ritualisierte Vorgänge, die zur Musik hin tendierten. Andererseits hat ihn das Theater sehr gelangweilt, ausgenommen Peter Zadek und Werner Schroeter."
Werner Schroeter (Theater- und Filmregisseur): "Begegnet bin ich Rainer Werner, als er sein Theaterstück "Anarchie in Bayern" am Forum-Theater in Berlin aufführte, das muß 1968/69 gewesen sein. Ich erinnere mich, daß ich da zu ihm gesagt habe: "Wenn du weiterspielst, nicht geliebt werden zu können, gehst du unter." Ich hatte das Gefühl, da ist jemand, der sich wehrt, Liebe anzunehmen, um zu beweisen, es gibt sie nicht, der aber gleichzeitig unbedingt beweisen will, es gibt sie doch. Er und ich, wir waren damals total durchgedreht. 1968, die Aufregungen der politischen "Umwälzungen", das Klima der Zeit, der Dauersuff, Drogen..."
Liselotte Eder (seine Mutter, Mitspielerin in seinen Filmen, Gründerin der Rainer Werner Fassbinder Foundation): "Rainer war ungefähr 14, als er mir erklärt hat: "Ich bin homosexuell." Ich war vollkommen durcheinander. Ich dachte, das wär’ eine Krankheit und ich hab’ gesagt, wir müssen ihn zu einem Psychologen schicken, damit der ihn heilt. Wolff Eder (sein Stiefvater) hat gesagt: "Das ist keine Krankheit. Vielleicht ist es eine Entwicklungsphase." Ich habe mir Sorgen gemacht wegen des Paragraphen 175, damals war Homosexualität ja gegen das Gesetz. Wolff Eder und ich haben Rainer immer empfangen mit seinen homosexuellen Freunden."
(DDR-Spruch in den 50iger Jahren)
- Bertolt Brecht -
(aus "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny")
- Neue Bürokratie -
Tja, die Hippies und die Revoluzzer von ‘68. Na, die meisten dieser Herren haben ja in der Zwischenzeit ein Plätzchen in unserer Gesellschaft gefunden. Sich etabliert, sozusagen. Aber, einige von ihnen haben das nicht überwunden, daß nichts geworden ist aus ihren kranken Ideen, ne. Und dann haben sie durchgedreht, völlig durchgedreht. Der Terrorismus! (...)
Aber im Grunde genommen, waren sie ja sehr nützlich für uns. Der Ruf des Volkes nach Recht und Ordnung wurde laut. Schauen Sie, unsere Antwort darauf war die Säuberung des Staates von subversiven Elementen. Einige stabile Gesetze. Disziplin! Das ist es, was unsere Jugend wirklich braucht! Männer, erinnert ihr euch noch, als wir damals marschierten?
einige Promille später
Kellner Franz:
So meine Herren. Austrinken, Sperrstunde.
ein Gast:
Ein Achtel. Ein schnelles darauf, daß Sie sich immer umsonst
aufgeregt haben.
Kellner Franz:
Was heißt denn umsonst?
ein Gast:
Wegen irgendwelchen Revolutionen, die’s bei uns überhaupt nicht
gibt.
Kellner Franz:
Ja, bis jetzt is es ja gutgegangen. Aber wer weiß, was denen noch
alles einfällt.
ein Gast:
Was soll denen einfallen? Was fällt überhaupt jemandem ein, in
Österreich, außer eins Saufen?
Kellner Franz:
Na wollen ma hoffen, daß es so bleibt.
(aus: Erste Allgemeine Verunsicherung: "Cafè Passé"
Texte: Thomas Spitzer)
Nun bin ich nicht geneigt zum Geben,
Nun heißt es: Nimm!
Ja, ich muß töten, um zu leben,
Und das ist schlimm.
Doch eine Sehnsucht blieb zurücke,
Die niemals ruht.
Sie zieht mich heim zum alten Glücke,
Und das ist gut.
-Wilhelm Busch-
- Kinderspiel -
An die Mutter erinnert sich Rolf als an eine "sehr hilflose Person, den Kindern gegenüber und dem Vater". Gefühle werden zurückgehalten. Dumpfe Kälte, Kühlschrank-Atmosphäre. Keine tobenden Rangen in der Wohnung, sondern tonlose. Früh brave Kinder, die sich zusammennehmen können. "Ich habe", sagt Rolf Diesterweg über seine Eltern, "nie viel mitgekriegt von ihrer Beziehung, auch nicht viel Zärtlichkeit."
Der Vater hat das Sagen. Ein Maurerpolier, der den Mund gern voll nimmt. Autoritär, unempfindlich. Die Mutter unterdrückt eher, was sie empfindet, eine stille Frau. Wärme, Vertrauen, Trost ist da wenig. Nur Forderung. Nach Zurückhaltung, nach Leistung. Zeig erst mal, was du fertig bringst. "Ich wollte meine Kinder später mal nicht so erziehen", sagt Rolf Diesterweg. "Dieses: Von nichts kommt nichts. Als Junge wollte ich auch schon so stark sein, wie mein Vater, aber ich hab’ das oft so empfunden, daß er uns als Schlappies gesehen hat." Die Weichlinge, die Sensibelchen.
Wenn die Mutter Gefühle auslebt, dann im Ausnahmezustand und oft mit Gewalt. "Ich kann mich an sehr viel Prügel erinnern", sagt Rolf, "da ist der eine oder andere Kochlöffel schon kaputtgegangen. Immer auf den nackten Po, mit dem Kochlöffel, Kleiderbügel, Teppichklopfer. Ihr taten die Hände weh vom Prügeln, und ich hatte deswegen Schuldgefühle. Einerseits Prügel, andererseits, wenn ich mal krank war, hatte ich schon das Gefühl, sie kümmert sich." Daß bei Rolf die Schläge mit dem Sexuellen verschmelzen, entgeht der Mutter. (...)
Mit zwölf hat Rolfs Entwicklung ins sadistische schon Gestalt. Er spinnt sich Phantasien zusammen, in denen er stark ist. So stark, daß er die anderen springen lassen kann, wie er will. Wo Macht herrscht, nicht hilflose Ohnmacht. Und Gefühl, starkes Gefühl. "In den Phantasien", sagt er, "gab es keine Konflikte." Darüber spricht er mit niemanden.
Auch nicht, als er beginnt, die Szenen auszuleben. "Ich hab’ ein Kaninchen aus einem Nachbarsgarten geklaut, ich glaub’, das hab’ ich erschlagen und nochmal mit dem Messer drauf eingestochen. Das war so ein ambivalentes Gefühl. Lust, aber auch Ekel und Abscheu. Ein paar Wochen später habe ich eine Katze gefangen und gequält." Unbewegt erzählt er das.
"Ich hab’ Gewaltphantasien gehabt, schon damals mit zwölf. Daß ich ein Tier oder eine Mitschülerin in der Gewalt hab’. Das war von Anfang an verknüpft mit Lust." Mit zwölf auch bemerkt er, "daß gleichaltrige Jungs wie Mädchen mich sexuell erregen. Sie zu vergewaltigen in der Phantasie." Die Fassade des braven Buben wahrt er. "Ich hab’", sagt Rolf Diesterweg, "mein Leben lang Schuldgefühle gehabt, daß ich so oft diese Phantasien hatte." Er schämt sich dafür, aber er genießt sie auch. (...)
Am 7. Januar 1979, eine Woche nach seinem 16. Geburtstag, tötet er zum ersten Mal. Zufällig trifft er auf dem Deich ein Mädchen aus der Nachbarschaft, Silke. Ein Sauwetter, Eisregen, es ist stockduster. Das Mädchen ist zwölf, und sie sieht auch so aus. Kräftig, aber keine frühreife Frau, körperlich ein Kind. Sie suchen Schutz vor dem Wetter im Toilettengang des DLRG-Häuschens am Hafen. Dort stranguliert er sie mit dem Schal, den sie trägt. "Es gab keinen Grund, sie zu töten", sagt Rolf Diesterweg heute. Keinen Grund, der mit Silke zu tun gehabt hätte. "Es ging schon ums Töten", sagt er. "Da war Lust, Erregung dabei, Haß und Wut beim Strangulieren. Bei der Silke noch mehr als bei der Kim." Die Spannung entlädt sich, wie ein Kurzschluß. Dann tritt Erleichterung ein. (...)
In ihrem Gutachten für die Gerichtsverhandlung schreibt die damalige Leiterin der Kinder- und Jugendpsychatrie Hamburg über die Tötung von Silke Meyer, daß es sich um das "tragische Ergebnis einer banalen Reaktion von Rolf Diesterweg auf eine Verweigerung seiner Bedürfnisse" handele. Die Jugendkammer des Landgerichts Oldenburg folgt ihr weitgehend, befindet darüber hinaus, "andererseits liegt ein bewußtes Ausnutzen der Art und Wehrlosigkeit der Silke Meyer ... nicht vor, auch niedrige Beweggründe waren bei dem Angeklagten nicht festzustellen."
Rolf Diesterweg wird nur wegen Totschlags verurteilt. Sechs Jahre Jugendstrafe. Doch obgleich im Urteil von Entwicklungsstörung die Rede ist, kommt buchstäblich niemand auf die Idee, dem Jungen, der getötet hat, eine Therapie anzuempfehlen. (...)
Er will Buchhändler werden. Findet nach der vorzeitigen Entlassung 1985 eine Lehrstelle in Limburg, nicht weit entfernt von dem Ort, aus dem der Vater stammt. Ist bereits spezialisiert auf esoterische Literatur, anderes interessiert ihn nicht. "Okkultismus, Nah-Todeserfahrung, übersinnliche Erfahrung, Engel, Schutzgeister, Edelsteine, parapsychologische Phänomene haben ihn interessiert", erinnert sich der Buchhändler, bei dem er angestellt war. "Nach Hameln", sagt Rolf Diesterweg, "war das für mich so was wie Aufbruchstimmung. Mit der Esoterik war das für mich wie ein selbsttherapeutischer Versuch." (...)
In Limburg wohnt er möbliert, freundet sich bald mit einer Kollegin im Buchladen an, eine alleinerziehende Mutter zweier Kinder. Zieht bald darauf zu ihr nach Görgeshausen, einen Vorort von Limburg. So als könnte es glücken, mit einem Sprung in die fertige Rolle des Familienvaters zu schlüpfen. Als ginge doch noch alles gut. Er kümmert sich rührend um die Tochter im Säuglingsalter, die ihn später mit "Papa" anspricht, und um den Ziehsohn. Ihnen erfüllt er jeden Wunsch. "Ich bin eigentlich lieber der Gute gewesen. Der liebevolle Vater."
Die Mutter der Kinder ist die stärkere, die dominantere in der Beziehung. Sexuell klappt es nicht so gut. "Am Anfang hatte ich Orgasmusschwierigkeiten, dann lief das wieder." Gegen die Erregung, die er bei der Tötung von Silke erlebt hat, kommt wohl kein Sexualakt an. Die obsessiven Phantasien kehren wieder. Und sie drängen nach Befriedigung. Was nach 1985 geschehen ist, versucht die Kriminalpolizei noch aufzuklären.
Fest steht, daß es ihn 1992 wieder losgetrieben hat. "Da hab’ ich mir einmal einen Zehnjährigen gegriffen, der mit seinen Freunden im Wald gespielt hat. Die Situation hat sich aufgebaut, aus meinem Zustand heraus. Innere Anspannung, immer mehr, immer mehr. Ich konnte keine Phantasien spinnen wie sonst. Es mußte was passieren, wie unter Zwang. Ich bin auf ihn zugegangen, hab’ ihm die Jogginghose runtergerissen. Er ist zu Boden gegangen. Ich habe mich auf seinen Rücken gekniet, festgehalten nicht gewürgt. Ihn am Po festgehalten. Seine Freunde kauerten da vor Schreck und sind weggelaufen." Den Jungen läßt er laufen, weil er sich wehrt. Er wird seine Opfer immer laufenlassen, wenn sie Gefühle zeigen. Die paralysiert vor Angst verstummen, tötet er. (...)
Was er in seiner Freizeit tut, weiß keiner außer ihm. Etwa, daß er um 1993 in Runkel bei Limburg einen 14jährigen mitgenommen hat, der von einer Kirmes kam, um ihn nach Hause zu fahren. Statt dessen aber mit ihm zum Sportplatz gefahren ist. "Ich hatte ihn aufgefordert, vor mir zu onanieren und Oralverkehr auszuüben." Ihn dann hat gehen lassen. Und daß er kurz darauf ein zehnjähriges türkisches Mädchen entführt. Zwei, drei Ortschaften weiter mit ihr in einen Waldweg fährt. Doch: "Da war die Spannung plötzlich wie weggeblasen." Auch sie läßt er gehen. "Das ist es ja", sagt er, "daß ich bis zur Kim immer die Kontrolle über mich bekommen habe. Der Druck bei ihr war um ein Vielfaches höher." Er sagt das, als hätte es Silke nie gegeben.
Er versucht auch, Wunsch und Wirklichkeit zu verbinden. Mit Michael (Name geändert) zum Beispiel, einem 15jährigen Schüler. Noch in der Buchhandlung freundet er sich mit ihm an. Der 30jährige mit dem 15jährigen. Verbringt seine Pausen mit dem Jugendlichen im "Wiener Kaffeehaus" um die Ecke. Holt ihn mit dem Auto zu Hause ab, um ihn in ein thailändisches Restaurant in Beckenheim auszuführen. (...)
Mit Michael und einer Freundin kommt es auch einmal zum sexuellen Kontakt. "Es war zärtlich", erinnert sich der heute 19jährige. Ihre Beziehung bleibt noch Jahre bestehen, platonisch. Doch sie sehen sich seltener. (...) Rolf Diesterweg ist seit Anfang 1994 klar, daß die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin wohl endgültig in die Brüche geht. "Er sagte mir, er hätte keine Kraft mehr, er könnte sie nicht mehr halten", erinnert sich Markus (Name geändert), ein Freund. Im Herbst 1996 ist es mit der Freundin endgültig aus. Rolf zieht zu den Eltern, nach Horumersiel. Den Kontakt vor allem zur Ziehtochter behält er. (...)
Und wieder fährt er umher, Jäger und Getriebener zugleich. Auf einem Truppenübungsgelände stößt er 1996 auf zwei Jungen. "Ich hab’ sie dazu gebracht, weiter mit mir reinzufahren", sagt er. "Dann hab’ ich einen weggeschickt. Dem Verbliebenen hab’ ich einen Elektroschocker an den Hals gehalten und ihn dann laufenlassen." Der Drang nach Demütigung, nach Unterwerfung, nach Quälen bleibt nicht still. Er besitzt jetzt nicht nur Gaspistole, Elektroschocker und Rohrstange, sondern auch Handschellen. Instrumente der Unterwerfung. Im November ‘96 spürt er die große Unruhe wieder. (...) Zwei Wochen bevor er Kim begegnet, ist er noch mit der Ziehtochter und Markus in Horumersiel bei den Eltern.
Er fürchtet dieses Gefühl, das in ihm immer stärker wird. Beschwört einen Freund, bis Sylvester bei ihm zu bleiben. Doch der fährt weg. "Richtig panisch", wundert sich der noch im nachhinein. Nach Sylvester ruft er auch Michael in Limburg an. Dessen Mutter ist am Apparat, Michael nicht zu Hause.
Er kann dem Druck nicht widerstehen. "Ich bin den ganzen Tag rumgekurvt. Und dann bin ich in Varel noch mal in diese blöde Straße eingebogen. Hab’ erkannt, daß es kein Erwachsener war, da vor mir. Danach lief es ab wie im Film. Vorbeifahren, rechts um die Ecke, anhalten. Sie kam direkt auf mich zu. Ich hab’ sie gepackt und ins Auto." Er fährt mit ihr nach Horumersiel, in das Haus seiner Eltern, das er in deren Abwesenheit hüten soll. "Dann waren wir auf dem Zimmer. Ich hab’ mich selbst befriedigt, neben ihr auf dem Bett. Vorher hatte ich ihr gesagt, sie soll die Hose runterziehen. Dann sollte sie sie wieder hochziehen. Aber die Spannung bei mir hat nicht nachgelassen. Ich hab’ sie nicht geschlagen, gar nichts. Ich hab’ überlegt, was machst du jetzt. Irgendwas in mir hat gesagt, du mußt sie töten. Ich wollte es nicht, aber ich mußte es."
Er sitzt an dem kleinen Tischchen in der Besucherzelle, ein bißchen wie verloren. Durch die Taten ist er jemand geworden. Einer, den man fürchten muß. Seine Augen sind rot vom Weinen. "Ich wollte meinen Eltern nicht weh tun", sagt er. Ungeliebte Kinder bleiben den Eltern am längsten treu.
- damalige Familienministerin Claudia Nolte, CDU -
Texte von und über Fassbinder: Rainer W. Fassbinder: Anarchie in Bayern & andere Stücke, Verlag der Autoren, Frankfurt 1985 / Herbert Spaich: Rainer W. Fassbinder, Leben und Werk, Beltz, Weinheim 1992 / Rainer W. Fassbinder: "Die Anarchie der Phantasie", Gespräche und Interviews. Hg. von Michael Töteberg, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 1986 / Das ganz normale Chaos, Gespräche über Rainer W. Fassbinder. Hg. von Juliane Lorenz. Henschel Verlag, Berlin 1995 - Albert-Zitat: Der Albert, April 1997 - Liedtexte: Konstantin Wecker, "Zweitausendundeins" (CD-Booklet), Polydor 835 634-2 - Brecht-Zitat: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (CD-Booklet), CBS M2K 77341 - Busch-Zitate, Zeichnungen: Wilhelm Busch: Sämtliche Werke I+II, Bertelsmann Verlag, München 1982 - DDR-Spruch: Witze bis zur Wende, 40 Jahre politischer Witz in der DDR, Hg. von Helga und Klaus-Dieter Schlechte, Ehrenwirth Verlag, München 1991 - Definitionen: Großes Universallexikon in Farbe (Honos-Verlag) / Duden, die Rechtschreibung (19. Auflage) - Englischer Kindervers: Walter Scherf: Die Herausforderung des Dämon, Saur Verlag, München 1987 - "Ich wolte es nicht...": Stern Nr. 17, 17. 4. 1997 - Im Café Passé: Erste Allgemeine Verunsicherung: "Cafè Passé" (CD), EMI Austria 9592022 - Nolte-Zitat: Spiegel Special Nr. 8/1996